Zwei Herzen in der Brust

Wachsen und Wurzeln: Diese beiden Ursehnsüchte bestimmen, was Menschen als ihre „Heimat“ empfinden. Die eigenen Wünsche begegnen unverhofften Chancen, unfreiwilligen Herausforderungen - und den anderen Wünschen des Partners.

Heilig ist Menschen das Wachsen und das Wurzeln.

„Was ist ihnen heilig, das heißt: so wichtig, dass sie darüber nichts kommen lassen?“ Das sollte ein Meinungsforschungsinstitut für die Deutschen Bischofskonferenz erfragen. Die Antworten ließen sich auf einen überraschend einfachen Nenner bringen:
Heilig ist Menschen das Wachsen und das Wurzeln.

„Wachsen“ meint „frei sein“ und „sich verändern können“; 87 Prozent der Befragten erklärten es für „heilig“. 77 Prozent verbanden damit den Wunsch, das Leben so leben zu können, wie sie es sich vorstellen.
„Wurzeln“ ist dazu keineswegs der Gegensatz, sondern eher ein Gegenpol. Irgendwo muss jeder daheim sein. Wer es nicht ist, wird leicht zum unbehausten Nomaden, seelisch vereinsamt, psychisch obdachlos. Zwar gilt der Satz von Christian Morgenstern: „Wohl dem der einsam ist.“ Aber wehe dem, der vereinsamt. So braucht jede und jeder ein Dach nicht nur über dem Kopf, sondern auch über der Seele, betont Paul Zulehner.

„Bin ich aus deinem Bauch gekommen?“

In Herkunftsfamilien und Verwandtschaftsbeziehungen werden Kinder ohne eigene Entscheidung hinein geboren. Hier sammeln sie ihre ersten Erfahrungen auch mit „Zugehörigkeit“ und „Fremdheit“. Hier hört ein Kind den Stimmklang der Menschen, die ihm Vor- und Nachnamen gegeben haben, hier vergewissert es sich seiner Zugehörigkeit mit Fragen wie: „Bin ich auch aus deinem Bauch gekommen? Bin ich nicht als Baby vertauscht worden?“ Auch adoptierte Kinder können der Frage nach ihren biologischen Eltern nicht ausweichen. In diesem Zusammenhang wird heute von dem „Recht auf Wissen um die Herkunft“ gesprochen. Das schlummert manchmal, bis ein - womöglich schon erwachsenes - Kind die verstörende Frage stellt.
Der quasi mit der Muttermilch eingesaugte familiäre „Erfahrungsschatz“ ist die Basis individueller Lebensgestaltung. Daraus reifen im Laufe des Lebens Weltbilder. Wie ein Mensch die „Welt“ wahrnimmt und mitgestaltet - mutig, angepasst, misstrauisch, zurückhaltend oder rebellisch - wurzelt in seiner „Heimat nicht aus Steinen, sondern aus Beinen“.

Wie viel Heimat braucht der Mensch

Neben den über Generationen tradierten Botschaften, Verhaltensmustern und Regeln sind es die stillen Übereinkünfte, inneren Haltungen und veräußerlichten Lebensstile, die einen Menschen prägen und ihn ein Leben lang begleiten. Manches Wissen wird der nachfolgenden Generation aus Scham- oder Schuldgefühlen verschwiegen, manches wird als offene Frage von Generation zu Generation mitgetragen. Beziehungen werden wirkungsvolle Wahrheit. Mit dieser Nahrung für die Seele entwickelt ein Mensch Identität und Selbstwert - und ein Gefühl für Heimat.
Die Beziehungsheimat entwickelt sich auch im territorialen Kontext. Jeder kennt die Frage: „Aus welcher Ecke/Gegend bist Du denn?“ Zu einer Familie zu gehören, zu einer Gruppe, lässt Heimat erleben. Der Wunsch nach Beheimatung reicht vom „Besitz“ bis zur „Solidarität“ mit anderen. Aus dieser „Ecke“ nehmen Menschen zum Beispiel ihre Sprachfärbung mit; im Dialekt können Dinge gesagt werden, die nur so richtig verstanden werden. Das Gefühl, zu Hause zu sein, entsteht an Orten, an denen ich mich auskenne, an Orten, wo ich mich wohl fühle. Das kann heißen: Ich kenne die Örtlichkeiten, den Laden um die Ecke und seine Öffnungszeiten, kenne die Straßenbahnlinien und weiß, wie viel ein Fahrschein kostet. Ich kann eine Abkürzung nehmen und weiß, wo es im Wald gute Pilzsammelstellen gibt. Ich weiß, von welchem Baum ich als Kind herunter gefallen bin, erinnere mich an die Telefonzelle, an der ich meinen ersten Kuss gab oder bekam. Ich kenne Friedhof und Kirche. Ich weiß ein wenig aus den Familiengeschichten der Nachbarn, ich werde gegrüßt. Solche Details sind Zeichen von Vertrautheit und Zughörigkeit.
Vielen Menschen kann diese Heimat zu eng werden , zu „miefig“, zu langweilig. Das Bedürfnis nach Wachsen und Verändern meldet sich; neue Räume wollen erschlossen, alte neu erworben werden.

Von einem, der auszog …

Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen: Wie in diesem Märchen beginnen junge Menschen irgendwann nach Zugehörigkeiten außerhalb des familiären Umfeldes zu suchen. Mit der Loslösung aus der Familie betreten sie eine neue Stufe im Prozess der Selbstwerdung. Mitunter scheint es, als müssten sie, um wirklich gehen zu können‚ die Familie und das damit verbundene „Gedöns“ abwerten. Heftige Abwehrbewegungen, Vorwürfe oder Brüche mit den alten Familienbanden sind Begleiterscheinungen, die manchmal notwendig sind, wenn Eigenes erworben werden will. Heranwachsende Menschen suchen neue Gruppen, erproben manchmal mit unkonventionellen Ideen ihre Selbstständigkeit. Doch gleichzeitig bleiben sie womöglich im „Hotel Mama“ wohnen oder nähren sich zumindest weiter am sicheren Geldbeutel der Eltern.
Neue Wahl-Heimaten und Beziehungen müssen erprobt und erlebt, mit anderen erfunden und geteilt werden. Auch diese Heimaten entwickeln sich im Erzählen. In und aus Geschichten bezieht der Einzelne Identität; dadurch wird es ihm möglich, die Welt auf seine Weise zu deuten, zu begreifen. Die Gegenwart stellt Herausforderungen, die neuer Antworten bedürfen: neue Geschlechterrollen, neuer Reichtum und neue Armut, Mobilität und Stabilität, Medialisierung, Informationsgesellschaft, ... Das alles will kommuniziert werden; darüber werden neue Zugehörigkeiten gebaut. Gleichzeitig verlangt das eine Integrationsleistung; so nimmt „Heimat“ für jede/n eine individuellen Färbung an. Wie weit entfernt dieses „Eigene“ territorial gesehen liegt, im Elternhaus, in der nächst gelegenen größeren Stadt oder in Australien, hängt mit Familiengeschichten, mit der politischen Situation, mit gesellschaftlichen Bewegungen und Ideen, individuellen Entscheidungen oder Zwangslagen zusammen.

Ursehnsüchte im Ungleichgewicht

Bei aller Lust an und Notwendigkeit von Veränderung und Wechsel der sozialen Netze und Beziehungen brauchen Menschen jedoch die Sicherheit des Bekannten, um dem Chaos, der Unsicherheit, Veränderung und der damit verbundenen Fremdheit begegnen zu können. Auch wer die Freiheit über alles liebt, findet sich in Situationen wieder, die ihn einerseits binden und verpflichten; andererseits erfährt er darin gleichzeitig Sinn und Annahme. Nach Paul Zulehner kommen in diesem Verhalten des Menschen Ursehnsüchte und Grundhoffnungen zum Ausdruck. Er beschreibt sie in drei Dimensionen:

  • der Ursehnsucht nach einen einmaligen Namen, Ansehen und Zuwendung,
  • der Ursehnsucht nach Wachstum, Freiheit und Macht,
  • der Ursehnsucht nach Verwurzelung, Beheimatung und Besitz.

Zwischen diesen Wünschen und ihrer Erfüllung, so Zulehner, besteht ein dauerndes Missverhältnis. Immer wieder kommt es deshalb zu Krisen und Veränderungen. Dann wird spürbar, ob und wie ich lernen konnte, meine Sehnsüchte und Wünsche angemessen zu befriedigen oder auch zu kultivieren. Unfreiwillige Herausforderungen und Überforderungen werden oft als Erschütterung, als unverhoffte „Heimatlosigkeit“ erlebt; sie bergen jedoch immer auch die Chance, in Kontakt mit den eigenen Sehnsüchten zu kommen.

  • eine neue Arbeitsstelle, viele Kilometer vom Zuhause entfernt. Wie vertraut ist es mir, fremd unter anderen Menschen zu sein? Was oder wer reizt mich, diese Herausforderung anzunehmen? Wen kann ich was fragen? Wie viel Kontrolle habe ich noch über das, was mit mir geschieht? Welche Möglichkeiten der Kontakt- und Beziehungsaufnahme sind mir vertraut? Was habe ich an Sicherheit in meinem seelischen Depot, die es mir ermöglicht, mich neuen Eindrücken zu stellen? Wie gehe damit um, dass nicht alles Gold ist, was glänzt? Wer sich an seinem Arbeitsplatz als beliebig austauschbar erlebt, wer nichts machen kann, ohnmächtig in Zwängen erlebt und nicht mitbestimmen kann, für den ist die Arbeitsstelle ein Ort „wie in der Fremde“; er ist „entfremdet“.
  • der Verlust der Eltern: Plötzlich gehöre ich nicht mehr zur Sandwich-Generation zwischen Eltern und eigenen Kindern, sondern repräsentiere selbst die letzte lebende Generation meiner Familie. Die eigene Endlichkeit wird mir bewusst.
  • der Verlust des Arbeitsplatzes: Wie viel „Namen“ habe ich noch als Arbeitslose, wie viel „Heimat“, wie viel soziales Netz geht verloren? Wie kann ich mich stabilisieren, auch „ohne Arbeit“? Wie viel Veränderungen kann ich leisten, bin ich bereit zu leisten, um auch in der Sicherheit „Arbeit“ wieder einen Namen zu erwerben?
  • die Trennung von einem lange vertrauten Menschen: Wo habe ich jetzt noch Menschen, von denen ich mich verstanden fühle, die mich kennen, bei denen ich eine Zeit lang zuhause sein darf?
  • eine neue Liebe: Sie fordert mich zur Veränderung heraus, spricht meine Sehnsucht, meine Bedürfnisse und meine Ängste an. Was bin ich bereit zu wagen? Verliere ich mich? Was wäre wenn, ...?
  • ein neuer Job für den Partner, 400 Kilometer entfernt: Soll ich mitgehen oder hier bleiben? Eigentlich hatte ich mich darauf eingestellt zu bleiben; gerade haben die Kinder die Eingewöhnung in Kindergarten oder Schule geschafft, das eigene Haus steht seit drei Jahren im Garten der Eltern. Und da ist die Hoffnung der Eltern...

Jede/r kann diese Liste aus eigener Erfahrung ergänzen. Wer in Ehe und Familie, in partnerschaftlichen Beziehungen lebt, weiß am besten: Die eigene aktuelle Sehnsucht trifft sich selten mit der des Partners. Sie bleiben zwei Menschen mit je eigener Sehnsucht nach Wurzeln und Wachsen und den „Ach zwei Herzen“ in einer Brust.

Maria Faber